«Ein Kind fällt nicht einfach tot um, wenn es eine halbe Stunde länger zockt»
Hintergrund

«Ein Kind fällt nicht einfach tot um, wenn es eine halbe Stunde länger zockt»

Patrick Vogt
21.11.2023

Gamende Kinder sind ein Reizthema in der Gesellschaft. Für die einen gehört der Umgang mit digitalen Spielen zur Selbstverständlichkeit, andere befürchten den Untergang des Abendlandes. Ein Fachmann ordnet ein.

Vor kurzem durfte unsere Tochter das erste Mal auf der Nintendo Switch spielen. Sie war begeistert und hat es toll gemacht. Über ihre Eindrücke und Erfahrungen sowie unsere als Eltern habe ich anschliessend geschrieben.

  • Hintergrund

    Zoe zockt – meine Tochter spielt zum ersten Mal Nintendo Switch

    von Patrick Vogt

Die Reaktionen auf den Beitrag fielen überwiegend positiv aus. Viele Kommentierende beschrieben, wie sie das Gamen mit ihren Kindern handhaben. Andere erinnerten sich an die eigene Kindheit, und wann sie zum ersten Mal mit Videospielen in Kontakt kamen. Vereinzelt wurde ich auch dafür kritisiert, dass ich unsere Tochter auf der Switch spielen liess.

Da will mir wohl jemand einreden, ich sei ein Rabenvater.
Da will mir wohl jemand einreden, ich sei ein Rabenvater.
Quelle: Digitec Galaxus

Gamen oder nicht gamen, das ist hier die Frage

Ich lasse mich normalerweise nicht leicht verunsichern. Ich bin nach wie vor überzeugt davon, dass wir mit unserer Tochter den richtigen Weg gehen, was den Umgang mit digitalen Spielen angeht. Und trotzdem, ein Teil der in den Kommentaren erhobenen Bedenken hallten ganz leise in mir nach. Da flatterte die Einladung für ein Referat namens «Positive Aspekte von Games» ins Haus. Diese Veranstaltung konnte ich zwar nicht besuchen, dafür habe ich mir den Referenten für ein Interview gekrallt.

Florian Lippuner ist Medienwissenschaftler mit langjähriger Spielerfahrung.
Florian Lippuner ist Medienwissenschaftler mit langjähriger Spielerfahrung.
Quelle: Florian Lippuner

Unsere Tochter durfte kürzlich das erste Mal die Nintendo Switch ausprobieren. Oder «am Färnseh spielen», wie sie es selbst nennt. Sind wir Rabeneltern?
Florian Lippuner: Es gibt zwei Arten von Rabeneltern: Jene, die ihr Kind unkontrolliert gamen lassen und jene, die ihr Kind gar nicht gamen lassen. Wenn ihr da also irgendwo dazwischen seid, ist das sicher schon mal ein gutes Zeichen. Wichtiger als das «ob» ist aus meiner Sicht aber, was, wann, wie lange und warum gespielt wird.

Wie handhabst du das bei deinen eigenen Kindern?
Der Kleine ist gerade mit Laufenlernen beschäftigt, von dem her ist das bei ihm noch kein Thema. Der Grosse ist im zweiten Kindergarten und seit ein, zwei Jahren spielen wir ab und zu zusammen auf der Nintendo Switch. Er hat in Bezug auf das Gamen immer wieder andere Phasen: An gewissen Tagen fragt er gefühlt im Minutentakt, wann wir endlich gamen. Und dann gibt es Zeiten, in denen er das Gamen wochenlang links liegen lässt und fast vergisst, dass da ja noch eine Switch steht.

Wie gehst du denn konkret vor?
Ich begleite ihn in diesen verschiedenen Phasen sozusagen moderierend: Wenn sich alles nur noch ums Gamen dreht, dann fahre ich die Leitplanken hoch und achte zum Beispiel darauf, dass er nicht länger als plus/minus 30 Minuten am Tag spielt. Und wenn das Gamen über längere Zeit gar kein Thema ist, dann bin ich es, der ihn irgendwann anstupst und fragt, ob er nicht mal wieder mit Papa gamen möchte. Ich handhabe das, solange das so gut funktioniert, möglichst intuitiv. Wenn alles passt, gamen wir.

Ab wann soll man Kinder was spielen lassen und wie lange? Gibt es da aus deiner Sicht sowas wie eine Faustregel?
Ich glaube, da muss jede Familie ihren eigenen Weg finden. Manche Eltern geben ihrem Kind ein Smartphone oder Tablet in die Hand, noch bevor es zweijährig ist. Andere warten bis drei oder länger. Es gibt da keine magische Grenze. Wichtig sind bei einem Kleinkind zwei Dinge: Erstens: Was konsumiert es? Es macht einen himmelweiten Unterschied, ob man es einfach passiv mit rasanten Youtube-Clips berieselt oder ob es aktiv in einer Wimmelbuch-App Dinge entdeckt. Bildschirmzeit ist nicht gleich Bildschirmzeit. Zweitens: Die Dosis macht das Gift. Lässt man ein Kleinkind ab und zu mal zehn Minuten Handygames spielen, so ist das unproblematisch. Ungesund wird es, wenn Videos oder Games als Erziehungsmittel oder als «Ruhigsteller» mehrere Stunden am Tag oder gänzlich unlimitiert zum Einsatz kommen.

Was sind denn die positiven Aspekte von Videospielen? Inwiefern können Kinder davon profitieren?
Das Hauptziel beim Gamen ist in der Regel das Meistern einer bestimmten Aufgabe. Damit dies gelingt, braucht es verschiedene Fähigkeiten wie Reaktion, Koordination, Motorik, räumliches Vorstellungsvermögen, logisches Denken, Kreativität und Konzentration. Gamer perfektionieren das, einfach weil das eine Voraussetzung für das Vorankommen ist. Darüber hinaus profitieren Gamer auch im persönlichen und sozialen Bereich. Durch Spielerfolge werden sie selbstsicherer, und im Game können sie verschiedene Dinge spielerisch entdecken und ausprobieren. In Teams lernen sie, wie wichtig Zusammenspiel und Kommunikation sind. Apropos: Eltern von Gamern berichten mir immer wieder, wie erstaunt sie über den grossen englischen Wortschatz ihrer gamenden Kinder sind.

Alles hat zwei Seiten, also wird es ja wohl auch negative Aspekte geben..?
Games sind nicht einfach gut oder schlecht. Es kommt immer darauf an, was man aus ihnen macht. Und was das ist, hat jeder Gamer selbst in der Hand. Ich kann Games nutzen zur Unterhaltung oder um ein bisschen abzuschalten nach einem anstrengenden Tag. Aber ich kann Games eben auch aus ungesunden Motiven heraus nutzen, zum Beispiel, um etwas zu kompensieren, vor etwas zu flüchten oder etwas zu verdrängen. Eine solche Flucht und solche virtuellen Erfolgserlebnisse können süchtig machen. Und das führt dann früher oder später in einen Teufelskreis, weil die realen Probleme dadurch noch grösser werden.

Gibt es weitere negative Begleiterscheinungen?
Ja. Zum Beispiel schildern mir Gamer immer wieder, wie ihnen irgendwann bewusst wurde, wie viel Zeit sie beim Gamen «verspielt» haben. Und was sie stattdessen mit dieser Zeit hätten anfangen können, zum Beispiel sportliche Aktivitäten oder Freunde treffen. Wenn man mal im Flow ist, dann vergeht die Zeit ziemlich schnell. Wir kennen das alle; Games können ein ganz schöner Zeitfresser sein.

«Das richtige Leben spielt sich nicht im Game ab.»
«Das richtige Leben spielt sich nicht im Game ab.»
Quelle: Shutterstock / Evgeniy pavlovski

Welches sind die wichtigsten Punkte, auf die Eltern im Umgang mit Videospielen für ihre Kinder achten sollten?
Man sollte hauptsächlich auf sein Kind achten und nicht nur auf die Games, irgendwelche Inhalte, Zeitbudgetierungen oder Altersempfehlungen. Du merkst umgehend, wenn dein Kind während oder nach dem Gamen übermässig aufgekratzt, aufgewühlt oder frustriert ist. Das ist dann ein Zeichen, ein anderes Spiel zu wählen oder mit dem Gamen nochmals zuzuwarten. Oftmals haben Eltern mehr Probleme mit dem Gamen als die Kinder selber. Da würde ich empfehlen, nicht zu viel Energie zu verschwenden, die man sonstwo gut gebrauchen kann. Ein Kind fällt nicht einfach tot um, wenn es mal eine halbe Stunde länger zockt oder Zugang zu einem Spiel für etwas ältere Kinder hat. Viele Streitereien und Kämpfe rund ums Gamen sind meines Erachtens überflüssig. Sie lenken höchstens von den wirklichen Baustellen in unserem Familienalltag ab.

Wir als Eltern können unseren Kindern erstens einen sinnvollen Umgang mit Bildschirmmedien vorleben und zweitens ermöglichen, etwa durch Begleitung, Gespräche, Reflexion, Empfehlungen oder Kontrolle. Ihren eigenen Umgang mit Medien müssen sich Kinder und Jugendliche früher oder später selbst erarbeiten: Was tut mir gut, was tut mir nicht gut? Und das gilt ja nicht nur für Games, wir erwarten das von ihnen ja in den verschiedensten Lebensbereichen.

Wann müssen bei Eltern die Alarmglocken schrillen?
Es muss kein Anlass zur Sorge sein, wenn ein Kind zwischendurch völlig im digitalen Tun aufgeht und das Zeitgefühl verliert. Ein solches Abkapseln vom Alltag kann befreiend und befriedigend sein. Heikel wird’s, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher versucht, über das Game elementare Dinge zu kompensieren, die in seinem Leben nicht gut laufen. Wenn jemand zum Beispiel nur im Spiel Erfolgserlebnisse haben kann, weil der Alltag frustrierend ist. Wenn man sich das dann immer mehr versucht im Game zu holen, dann führt das in einen Teufelskreis: Der Frust im Alltag wird noch grösser.

Wann gerät die Game-Nutzung aus dem Ruder?
Meistens dann, wenn Krisen, Konflikte, Krankheiten oder andere belastende Dinge im Leben eines Gamers auftreten. Der Fokus muss dann auf diesen echten Problemen liegen. Ich habe das zigfach beobachtet: Wenn diese Ursachen an der Wurzel gepackt und gelöst werden, pendelt sich auch die Game-Nutzung wieder auf einem normalen Level ein.

«Hier müssen wir hinkommen: Kids, die nicht nur die Games, sondern auch ihr Leben im Griff haben.»
«Hier müssen wir hinkommen: Kids, die nicht nur die Games, sondern auch ihr Leben im Griff haben.»
Quelle: Florian Lippuner

Beim Thema Videogames stehen vor allem sogenannte «Killerspiele» in der Kritik. So wird immer wieder der Vorwurf erhoben, dass sie Auslöser für Gewalt im echten Leben sein sollen. Wie stehst du dazu?
Früher oder später kommen unsere Kinder mit dem Thema Gewalt in Kontakt, ob wir das jetzt gut finden oder nicht. Die News sind voll davon und auf dem Pausenplatz geht’s auch nicht nur konfliktfrei zu und her. Wieso also soll Gewalt ausgerechnet in Games nicht stattfinden dürfen? Games sind eine Art Spiegel unserer Gesellschaft. Nur logisch, dass darin auch Gewalt in der einen oder anderen Form eine Rolle spielen muss.

Wie steht die Forschung dazu?
In mehreren Jahrzehnten Computerspielforschung konnte bislang kein direkter Zusammenhang zwischen Games und echter Gewalt nachgewiesen werden. Nachgewiesen wurde zwar, dass Games einen Einfluss auf aggressive Gedanken oder andere mentale Dinge haben können. Aber Games machen jemanden nicht ohne Weiteres zum Gewalttäter.

Was hielt man in deiner Jugend vom Gamen?
Ich als alter Egoshooter-Fan habe die Killerspiele-Debatte schon damals nicht verstanden. Krass ist, dass dieselbe Debatte auch 30 Jahre später praktisch unverändert weiterläuft. Das zeigt eben auch, wie weit entfernt viele Erwachsene immer noch von den Game-Welten ihrer Kinder sind. Wir sollten aufhören, unsere Kinder für dumm zu verkaufen. Sie wissen ganz genau, was der Unterschied zwischen Spielgewalt und richtiger Gewalt ist. Das macht für sie ja gerade den Reiz an diesen Spielen aus. Es geht um Wettkampf, Adrenalin, Action, Abenteuer – aber in einem geschützten Rahmen. Sie wissen, dass da niemand wirklich das Zeitliche segnet.

Florian Lippuner berät Eltern und Lehrpersonen im Umgang mit digitalen Spielen. Er ist promovierter Medienwissenschaftler, Autor und Familienvater mit langjähriger eigener Spielerfahrung. Weitere Informationen findest du hier.

Titelfoto: Shutterstock / rangizzz

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Ich bin Vollblut-Papi und -Ehemann, Teilzeit-Nerd und -Hühnerbauer, Katzenbändiger und Tierliebhaber. Ich wüsste gerne alles und weiss doch nichts. Können tue ich noch viel weniger, dafür lerne ich täglich etwas Neues dazu. Was mir liegt, ist der Umgangmit Worten, gesprochen und geschrieben. Und das darf ich hier unter Beweis stellen. 


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